Libanon 2021

von Stefan Heuchel, 19. Sepember 2021 // Lesezeit: ca. 6min

Anflug auf Beirut, im Hintergrund der zerstörte Hafen

Ich war vom 10.-13. September 2021 im Libanon. Eigentlich aus touristischen Zwecken, aber man kann die Themen Inflation, Politik und Krieg in Syrien nicht ignorieren. Ursprünglich wollte ich auf den Spuren Alexander des Großen wandeln, der ja die Levante-Küste der damaligen Phönizier eingenommen hat und in Tyros seinen berühmten Damm aufgeschüttet hat. Ich wollte keinen Katastrophentourismus betreiben, eher den Libanon erkunden. Und da das Interesse recht groß war wollte ich meine Eindrücke hier der Allgemeinheit zur Verfügung stellen. 

Das Wichtigste zuerst: Man kann unbesorgt in den Libanon fahren, obwohl sich die Lage natürlich sehr schnell ändern kann. Aber die Libanesen freuen sich gerade jetzt über Anteilnahme aus Europa. 

Man kann also Entwarnung geben, es ist ok zu fahren, nicht gefährlich. Man sollte genügend Euro oder Dollar in kleinen Scheinen mitnehmen…

Inschrift an einem wiedereröffneten Café im Beiruter Stadtteil Gemmayzeh – die Leute haben sicher ein Trauma, sind aber erstaunlich relaxed.

Christlich-orthodoxe Kirche in Beirut: Kreuze mit arabischer Inschrift – ein ungewohnter Anblick

Koexistenz der Religionen

Ich würde sagen, die Leute hier sind smart: Hier hast du die Kathedrale neben der Moschee und dahinter die Synagoge. Und es ist ok!

Das ist ein riesen Vorteil, dass die Libanesen so multireligiös sind. Die Leute hier waren wirklich extrem freundlich und respektvoll, ich bin in Beirut mehrfach angesprochen worden, wo ich herkäme, und niemand hat mich irgendwie angefeindet.

Ich muss sagen, ich habe ein positives Bild vom Libanon gewonnen: Das Land ist eines der entwickeltsten, die ich gesehen habe in der nicht-westlichen Welt, besser als die Türkei. Es gibt Blindenschulen, Dunkin‘ Donuts, SUVs, Fitnesstudios, Starbucks, Künstlerateliers, Boutiquehotels  – alles Zeichen von Wohlstand aus der ersten Welt. Da sieht es in manchen Gegenden Süditaliens oder Griechenlands schlimmer aus…

Beirut fühlt sich an wie eine Mischung aus Osteuropa und Afrika, wie Tiflis/ Georgien und Ägypten. Und da liegt es ja auch…  

Die Leute sind unglaublich stolz auf Ihr Land – noch immer – selbstbewusst und anscheinend sehr widerstandsfähig, vielleicht sogar leidensgeprüft.

Downtown Beirut, die Glasscheiben sind alle zu 95% repariert

Könnte auch in Paris sein, ist aber der Stadtteil Gemmayzeh in Beirut

Es gibt nur zeitweise Strom – Glück für die, die einen Generator haben. Blick auf die Skyline von Beirut – man sieht die Autoscheinwerfer, aber die Straßenbeleuchtung ist aus und viele Gebäude sind dunkel.

An manchen Gebäuden kann man noch die Schäden erkennen (Fenster vernagelt), aber insgesamt macht Beirut im September 2021 einen guten Eindruck.

 

Inschrift an einem Café in Beirut

Pilsener Im Orient!

Symbol für Staatsversagen: Das Polizeiauto steht eingestaubt am Straßenrand…

 

Aktuelle Situation – Inflation

Das Land ist natürlich gerade unglaublich billig für Ausländer und es gab mehrere, die sagten, dass es eine „günstige“ Zeit ist, zu kommen…Naja, ich hatte einige Skrupel und war wirklich bis zum letzten Moment beim Check-in in Berlin unsicher, ob ich es machen sollte.  Man schämt sich ja in gewisser Weise die Lage auszunutzen, andererseits hilft Tourismus, Geld ins Land zu pumpen und den Leuten was zu geben. Und auch Solidarität zu zeigen.

 

Dafür dass das Land pleite ist fahren noch sehr viele Autos, auch wenn es früher viel mehr waren. Benzin gibt es auf dem Schwarzmarkt.


Die Inflation 
spaltet das Land in die, die Fremdwährung haben und z.B. in US-Dollar bezahlt werden und die, die in libanesischen Pfund bezahlt werden. Sie verdienen umgerechnet nur noch 70…80€/ Monat!



D
ie ersten Anzeichen von Elend sind zu sehen: Erstens wurde ich mehrfach angebettelt, vor Allem von Kindern. Kam mir vor wie in Äthiopien…Zweitens habe ich Leute gesehen, die in den Mülltonnen rumwühlten oder mit zwei leeren Wasserkanistern ins Sammeltaxi stiegen.  Drittens reparieren und waschen sie ihre Autos nicht mehr. Sie selber sehen das vielleicht gar nicht so deutlich, aber für Außenstehende ist es klar: Es geht bergab.

Ich bewundere die Smartness und Coolness der Leute – wohlwissend oder ahnend, dass sie auf dem absteigenden Ast sind…

Manchen Ladenbesitzern fehlt durch die Inflation das Geld, Ihren Laden wiederzueröffnen, aber 80% sind wiedereröffnet.

Basar in Sidon/ Südlibanon

Kleine Esprossobar am Rande der Innenstadt Beiruts

So schlimm, wie es in manchen Medien verbreitet wurde ist die Versorgungslage nicht. Es gibt zwar nicht alles, aber es wurden z.B. auch Kartoffeln an den Straßenrändern verkauft. Die Frage ist, ob sich die Bürger das leisten können.

Denkmal für die Opfer der Explosion in Beirut im August 2020

Eines der wenigen einheimischen Produkte – libanesische Bananen: Etwas kleiner als gewöhnlich, aber durchaus schmackhaft und sie werden in Tyros/ Libanon produziert, d.h. kein Inflationsrisiko.

In der Großstadt gibt es an manchen Stellen nicht jeden Tag Ware – da werden Chipstüten verkauft.

Vertrauensvolle Menschen

Die Libanesen sind halt so leidensstark! Die haben 80% Inflation und ab und zu geht der Strom weg. Aber die Leute sind so cool, sie ertragen es, sie hoffen auf bessere Zeiten und sind nicht böse, oder gierig oder fies oder so. Sie machen das Beste draus!

 

Auch der Umgang mit der Explosion zeigt, welch Zivilcourage die Libanesen besitzen: Alles ohne fremde Hilfe weggeräumt, repariert, wieder aufgebaut und sogar mehrere Mahnmale installiert…Großartig! 

Mir hat ein Antiquitätenhändler in Beirut auf meine Frage, wo ich denn Geld tauschen können tatsächlich Geld geliehen, mir seinen Namen gesagt und mich gebeten, morgen ab 10 Uhr das Geld zurückzugeben, Euros tauschen könne er dann auch. Ich habe das natürlich getan und es zeigt, wie vertrauensvoll die Leute miteinander umgehen. Auch der junge Syrer, der mich im Minibus auf Arabisch ansprach und ich das Portmonee zückte lehnte ab, er hätte selbst Geld. 

Klar bin ich auch mal „abgezogen“ worden – einmal vom Busfahrer 20k statt 10k und vom Taxifahrer Samstagabends, der keine Libanesischen Pfund sondern harte Euros wollte und ich ihm meinen kleinsten Schein (5€) gab, was das doppelte von dem war, was normalerweise üblich ist. Aber bei einem  Kurs von 1€ : 16.000 LBP sind das statt 2,50€ halt 5€.

Beachbar am Mittelmeer in Tyros/ Südlibanon

Mauergemälde in Tyros/ Südlibanon

Galgenhumor…

Auch das ist der Libanon: Kuschelige Cafés und tolle Restaurants – heir in Tyros/ Südlibanon. Und wenn man die richtige Währung hat zur Zeit spottbillig.

Gedränge an einer Tankstelle, die Benzin hatte. 95% der Tankstellen sind zeitweise zu.

Römische Ruinen in Tyros, die leider nicht gepflegt sind

Unglaublich gut erhaltete und gepflegte Ruinen in Baalbeck/ Nordlibanon

 

Politische Strukturen

Dass die zum Himmel schreienden mafiösen Strukturen die Leute nur zweimal auf die Barrikaden ist erstaunlich: Einmal 2019 und im August 2020 nach der Explosion.  Es geht immer weiter bergab, das Parlamentsviertel ist eingemauert und man kommt nur durch Checkpoints rein. Kein Politiker lässt sich in der Öffentlichkeit blicken, weil er weiß, was für einen Shitstorm auslösen würde. 

Es gibt zwar eine kleine Hoffnung, dass Neuwahlen im Frühjahr 2022 Verbesserung bringt, das die Parteien die Positionen anders besetzen, aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

Man kann hier quasi im Reallabor erleben was passiert, wenn sich eine Regierung nicht um ihr Volk kümmert. Die Leute organisieren sich so gut es geht alles selbst und bleiben cool.

Eine Lösung des politischen Patts ist nicht in Sicht, jede Partei und Religion beharrt auf ihren Anspruch und gibt nicht ab, im Gegenteil- sie scheinen so wenig wie möglich zu tun und so viel wie möglich zu nehmen.

Niemand will aber einen Bürgerkrieg wie er 15 Jahre von 1975-1990 herrschte, zu präsent sind die Erinnerungen daran der 40+Generation . Es ist fatal, die Politik überlässt das Land sich selbst, und eigentlich müsste Anarchie wie in Afrika ausbrechen, aber die Leute bleiben erstaunlich cool, unglaublich gefasst, selbstverständlich respektvoll und vertrauen einander, dass es besser wird.

Mir kam es manchmal vor wie die DDR: Ein feiner gut gemeinter Versuch, Ideale der Menschheit in die Realität umzusetzen, der an der Wirklichkeit scheitert, an der Natur des Menschen, der nun mal ein Homo Economicus ist? Alle Religionen ko-existieren gleichberechtigt, und die entsprechend Verantwortlichen regieren das ganze Volk friedlich und gemeinsam. Faktisch hat sich aber hier aus dieser Gleichberechtigung ein Filz der Elite gebildet, von dem vor allem diese Elite profitiert und der zu absolutem Stillstand, und damit zu Verantwortungslosigkeit und Rückschritt  führt!

Exemplarisch für die Regierung: Öffentliche Busse, die nach der Explosion am 4.8.20 in Beirut so stehen gelassen wurden.

Baalbeck

Prognose

Die politische Aufarbeitung fehlt im Libanon komplett – es wurde weder der Bürgerkrieg mal offiziell besprochen, jemand verurteilt oder ein allgemeingültiges Verständnis udn Konsens hergestellt, noch wurden irgendwelche Leute für das Desaster am 4.8.2020 im Beiruter Hafen zur Rechenschaft gezogen. Alles passiert einfach, ohne dass etwas passiert. Die libanesischen Geschichtsbücher hören nach der Gründung des Libanon auf.

Vielleicht ist diese „Coolness“ doch Heuchelei? Halten alle nur still, weil sie wissen, dass es noch schlimmer kommen kann? Aber in Wirklichkeit ist man doch von der Überlegenheit der eigenen Religion überzeugt? 

Ein wahrscheinliches Szenario ist ein Einmarsch der Syrer oder Iraner, die das Land übernehmen, um damit Israel zu umzingeln. Oder die USA marschiert ein, um genau das präventiv zu verhindern, denn der CIA wird das vorher mitkriegen..

Ich bin dafür,  dass Libanon in die EU aufgenommen wird. Oder zumindest Beitrittskandidat wird. Das gibt der Bevölkerung eine konkrete Perspektive, die Machthaber müssen ihr striktes, nicht mit der EU-Gesetzgebung zu vereinbarende Parteien-Religionssystem aufgeben, ohne ihr Gesicht zu verlieren und es gibt ja ca. 20% Christen im Land.

Das Land hat auf jeden Fall das Potential und die Leute das Mindset, es müsste natürlich unterstützt werden.

Aber man erinnere sich, die Türkei war auch mal Beitrittskandidat…

Stromausfall

Touristisches Highlight in Beirut: Der Raouche-Felsen an der Beiruter Küste

Beirut hatte und hat eine hervorragende Gastronomie-Szene: Gemütliche Cafés, tolle Restaurants und Bars. Hier kann man prima ausgehen!

Überall diese kleinen Espresso-Busse. Das müsste es in Deutschland geben!

Diese emanzipierten Bürger hatten als provisorische Straßenbeleuchtung LED-Kerzenlampen über die Straße gehangen, dass wenigstens etwas Licht ist.

Es gibt Bier und Schnaps im Straßenverkauf.

Mittelmeerküste bei Tyros/ Südlibanon

Skyline Beirut

Warten auf Kundschaft in Tyros/ Südlibanon – die Stimmung ist gut

Der wird wohl nicht mehr bewegt…

Also, es war toll, und es hat sich gelohnt, in den Libanon zu fahren. Man kann dem Land nur alles Gute wünschen, dass es in nächster Zeit wieder besser läuft, vor allem politisch!

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